Der Zitronengarten by Helena Marten
Autor:Helena Marten [Marten, Helena]
Die sprache: deu
Format: mobi, epub
veröffentlicht: 2014-05-31T22:00:00+00:00
18. KAPITEL
SPLÜGENPASS, OKTOBER 1764
Signora, möchten Sie auch von dieser Köstlichkeit probieren?«
Der Mann wartete ihre Antwort gar nicht erst ab, sondern begann, mit seinem Messer eine dünne Scheibe von einem dunklen Fleischbrocken abzuhobeln, der mehr Ähnlichkeit mit einem verwitterten Holzscheit als mit etwas Essbarem hatte. Der Schweiß stand ihm auf der Stirn, als er die stumpfe Klinge endlich durch den harten Klumpen getrieben hatte. Mit einem triumphierenden Grinsen spießte er die Scheibe mit der Messerspitze auf und hielt sie Luisa entgegen.
»Ecco, signora, bresaola della Valtellina.«
Zögernd steckte Luisa sich das Schinkenstück in den Mund. Sie hatte schon in Chur bei einem Metzger etwas Vergleichbares entdeckt, das sich Bündnerfleisch nannte, aber keine Zeit gehabt, sich näher mit dieser lokalen Spezialität zu beschäftigen. Langsam kaute sie auf dem zähen Stück herum. Ein köstlicher Geschmack entfaltete sich in ihrem Mund: würzig, herb, ja, fast ein wenig bitter. Aber unvergleichlich gut.
»Möchten Sie auch eine Scheibe, Dottore?«
Der Bankier schaute zu Luisa, die verzückt die Augen verdrehte.
»Mir scheint, die bresaola ist mindestens so gut wie Ihre Salami, Signore. Zumindest wenn ich den stummen Lobbezeugungen dieser jungen Dame glauben will – und sie versteht sich auf Kulinaria. Also, säbeln Sie schon, guter Mann!«
Auch Luisa verzehrte noch mehrere Scheiben des getrockneten Fleisches, bevor sie dem Mann zusätzlich zu den vier Salamis und zwei Bergkäselaiben noch zwei unterschenkelgroße bresaola-Keulen abkaufte. Der Alte strahlte, als hätte er das Geschäft seines Lebens gemacht – was wohl auch der Fall war, wie Luisa mutmaßte. Das zahnlose Grinsen und die abgerissene Kleidung des Bauern sprachen Bände. Er schien nicht einmal ein Pferd oder einen Esel zu besitzen, mit dem er die Waren von seiner Hütte unten im Tal die steilen Serpentinen hinauf zum Splügenpass transportieren konnte. Jedenfalls konnte Luisa außer ihren eigenen Saumtieren weit und breit kein Tragetier entdecken.
»Di dove siete?«, nuschelte der Mann in seinem schwer verständlichen Bergitalienisch.
»Di Francoforte«, erwiderte sie lächelnd.
Zum ersten Mal, seit Matthias Bonfiglio und sie diese Reise nach Italien angetreten hatten, verspürte sie so etwas wie Zufriedenheit. Zufriedenheit wohlgemerkt, nicht Glück. Glück war etwas anderes. Etwas, das sie für sich selbst schon ausgeschlossen hatte. Die langen Tage während ihrer Kutschfahrt von Frankfurt nach Basel, die sie trotz aller Konversationsversuche des Bankiers mehr oder weniger stumm in dem luxuriösen Vierspänner des Bankhauses verbracht hatte, war sie vor allem in tiefes Nachdenken versunken gewesen. Nachdenken über ihre Situation, die ihr so jämmerlich erschienen war, dass sie mehrere Male mit den Tränen hatte kämpfen müssen. Und natürlich war sie die ganze Zeit voller Sorge um Graziella gewesen, ihre kleine Freundin, die ihr in den wenigen Tagen ihrer Anwesenheit in Frankfurt doch sehr ans Herz gewachsen war. Die Frankfurter Polizei hatte bis zum Tag ihrer Abreise keine Spur von den Kindern oder den Entführern finden können. Es war wirklich zum Verzweifeln! Gott sei Dank hatte sie in ihrer Niedergeschlagenheit nicht die Beherrschung verloren. Viel hätte nicht gefehlt, und sie hätte sich vor den Augen des Bankiers in ein schluchzendes Häufchen Elend verwandelt. Dieser war irgendwann, als das Wetter ab Mannheim wieder besser geworden war,
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